Kognitiv begabte Kinder anleiten (Teil 3)

Von Hanniel Strebel

Theologische und pädagogische Perspektiven eines fünffachen Jungsvaters

In unserer neuen dreiteiligen Serie setzt sich Hanniel Strebel intensiv mit seiner eigenen Lebensgeschichte, den Erfahrungen der Vaterschaft und der Bildung seiner fünf Söhne auseinander. Er greift auf umfangreiche Literatur über die theologische Anthropologie (Lehre über den Menschen) sowie ihrer Anwendung im beruflichen Kontext der Beratung zurück und wertet zudem die Beobachtung vieler Kinder sowie Einblicke in Lebensverläufe von Einzelnen und Familien im Bereich der kirchlichen Seelsorge anonymisiert aus.

Im ersten Teil geht es um Vorüberlegungen bzgl. des Menschseins sowie darum, was unsere Kinder beeinflusst. Im zweiten und dritten Teil geht es um die Ausarbeitung eines Modells für die Anleitung von begabten Kindern gehen.


Die Falle der Anpassung

Kinder haben den Wunsch, dazuzugehören. Kognitiv begabte Kinder unterscheiden sich jedoch von den Gleichaltrigen. So beginnt das Kind, sich nach außen unauffällig zu verhalten. Begabungsspitzen werden deshalb versteckt.


Versteckte Begabungsspitzen

Das Kind gesteht sich ungern ein, dass es gerne denkt, schreibt, rechnet, liest, programmiert, zeichnet oder konstruiert. Es tut dies nur im Verborgenen des eigenen Zimmers oder in der eigenen Werkstatt. Sobald es das Gefühl hat, von außen beobachtet oder kontrolliert zu werden, bricht es diese Tätigkeiten ab.

Das Kind spürt, dass das Verhalten ungewöhnlich für die Gleichaltrigen ist. Manchmal fallen auch Bemerkungen von Erwachsenen: "Ein Kind sollte doch … (draußen Fussball spielen, mit anderen Kindern toben, einen Film anschauen, mit Freundinnen quatschen)". In dieser oder ähnlicher Form werden die Durchschnittswerte und das erwünschte Verhalten in Sekundenbruchteilen an das Kind herangetragen.


Durch das Du zum Ich

Der Mensch ist von Gott als Wesen konzipiert worden, das sich an anderen ausrichtet. Jeder Mensch ist von Geburt an in eine Gemeinschaft hineingestellt worden. Zuerst einmal ist das die Familiengemeinschaft, dann die Nachbarschaft, später die Schulklasse etc. An dieser Orientierung ist grundsätzlich nichts verkehrt, im Gegenteil: Der Mensch lernt an den Modellen alle Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um sich als Erwachsener in seinem Umfeld zu behaupten, einen Beruf auszuüben und Nachkommen aufzuziehen. Soziologen nennen dies "Enkulturation".


Primärbindungslücken

Durch die Sünde wird dieser Anpassungsprozess verzerrt. Es schleichen sich dysfunktionale Muster ein. Das Kind lehnt die natürlichen Autoritäten (Eltern, Lehrer) ab, die Gott als seine Stellvertreter eingesetzt hat.[1] Es beginnt, sich in erster Linie an den Gleichaltrigen zu orientieren. Einzelne Bindungsforscher (wie Gordon Neufeld) haben die These entwickelt, dass sich das Kind infolge der Bindungslücken der Primärbindungen (Eltern), die sich sehr früh inhaltlich vom Kind abwenden, neu orientieren muss. Es richtet sich an Gleichaltrigen aus, welche jedoch noch nicht über die Erfahrung und den Weitblick der Erwachsenen verfügen. Dadurch werden sie oft und intensiv verletzt, was sich nach außen oft durch gegenteiliges Verhalten (lautstarkes Reden, auffällige Bewegungen) abbildet. Innerlich ist dies jedoch Ausdruck von Bindungsunsicherheit.


Menschenfurcht ist ein Fallstrick

Als Theologe blicke ich nochmals aus einer anderen Warte auf die Situation. Die Bibel spricht von Menschenfurcht und nennt sie ein Fallstrick. Das heißt, der in Sünde gefallene Mensch neigt dazu, sich an den Erwartungen und Verhaltensweisen der Umgebung auszurichten. Es gibt ein bestimmtes Normverhalten, das ganz genau eingehalten werden muss. Wenn andere Kinder nicht lange lesen, etwas konstruieren, komplizierte Fragen stellen, sich in eine Werkstatt zurückziehen oder sich mit älteren, erfahrenen Menschen abgeben, dann gilt dies als ungeschriebenes und im Abweichungsfall ausgesprochenes Gebot für das Kind. Das Handeln wird durch die Reaktion des Umfelds legitimiert. Wenn diese zustimmend nickt oder zumindest nichts dazu sagt, bewegt sich das eigene Handeln innerhalb des Rahmens der Erwartungen von anderen. (Man würde ja selbst ein schlechtes Gewissen oder ein unangenehmes Gefühl bekommen, wenn man außergewöhnliche Leistungen anerkennen würde.)


Gottesfurcht ist ein Segen

Dies bedeutet jedoch für ein kognitiv begabtes Kind, dass es sich oft verstecken muss. Es darf seine Fähigkeiten nicht nach außen hin zeigen. Es darf nicht auffallen, um keine negativen Rückmeldungen zu erhalten. Durch die Wiederherstellung der Beziehung zu Gott richtet sich der innere "Kompass" eines Menschen neu aus. Er eicht sich erneut am richtigen Zentrum. Der Kompass sucht den Halt nicht bei anderen Menschen, sondern zeigt stets auf seinen Schöpfer. Dies bedeutet nicht, dass zu gewissen Zeiten andere "Magnetfelder" diese Ausrichtung wieder übersteuern würden. Grundsätzlich ist jedoch das Begehren da, sich auf den "Nordpol" des Seins auszurichten.


Anpassung an die Umgebung als Stolperstein für Fromme

Leider beobachte ich, dass die Menschenfurcht für fromme Menschen ein besonderer Stolperstein zu sein scheint. Man will unbedingt vom Umfeld geliebt werden und angenommen sein. Nur schon die Vermutung, dass ein bestimmtes Verhalten für andere anstößig oder irritierend sein könnte, lässt sie vor außergewöhnlichen Handlungen zurückschrecken. Eltern und Rollenvorbilder, die selbst stark durch Menschenfurcht getrieben sind, impfen dieses Verhalten den Kindern ein und ermutigen es so ungewollt dazu, die von Gott angelegten Begabungen nicht froh und mutig zu entwickeln.

Von Unternehmern lernen

Umgekehrt stellt sich die Frage, von wem ein kognitiv begabtes Kind gute Impulse bekommen kann. Natürlich sind hier – wie auch in den übrigen Fällen – zuerst die Eltern gefragt. Wenn sie selbst ihre Menschenfurcht ablegen, ihr Versagen vor dem Kind bekennen und anstreben, das Kind zu ermutigen und zu stützen, ist ein wichtiger Grundstein gelegt. Mir ist aufgefallen, dass Unternehmer solche Kinder gerne bestätigen und auch beraten und unterstützen. Sie erkennen die zukünftigen Chancen einer solchen Entwicklung. Zudem gibt es Menschen, die selbst im Lauf der Zeit außerordentliche Fähigkeiten entwickelt haben (und dafür oft viel von anderen Menschen einstecken mussten). Es ist anregend, solche Menschen in Familien einzuladen oder für Projekte hinzuzuziehen.


Mein Zugang zur Erziehung

Es gibt grob gesagt zwei Zugänge zur Frage der Erziehung. Die einen gehen deduktiv von einem bestimmten Denksystem aus. Das heißt, sie legen der Beobachtung der Außenrealität ein Raster zugrunde. Berühmt geworden sind beispielsweise Sigmund Freud (u. a. Betonung des Unterbewussten und des sexuellen Triebs) oder Alfred Adler (Betonung des Einflusses der Gemeinschaft). Diese Schulen unterscheiden sich von den induktiv gesteuerten, evidenzbasierten Ansätzen, die zurzeit hoch im Kurs stehen. In der Realität basieren idealistische und empiristische Schulen auf der Interpretation von ausgewählten beobachteten Wahrnehmungen. Als Christ sehe ich die beiden Ansätze als einander ergänzend an. Sie werden korrigiert durch die Sicht der biblischen Offenbarung. Der Mensch steht permanent in Gefahr, die biblische Offenbarung durch die momentan populären Modelle zu beurteilen (anstatt umgekehrt).

Einige grundlegende theologische Wahrheiten für Eltern und Lehrpersonen

  1. Eltern sind für ihre Kinder funktionale Vorgesetzte. Sie erhalten die von Gott verliehene Autorität, ihre Kinder „im Herrn“ aufzuziehen (fünftes Gebot, von Paulus in Epheser 6,1-3 für die Familie bestätigt). Diese Autorität erstreckt sich auf die körperliche und geistliche Versorgung (5. Mose 6).
  2. Eltern sind wie ihre Kinder Gott als ihrem Schöpfer untergeordnet. Das heißt, sie stehen beide direkt vor ihm. Für beide Seiten gilt: Sie sind im Ebenbild Gottes geschaffen, in Sünde gefallen und werden, wenn Gott es in seiner Gnade wirkt, zu neuem Leben erweckt.
  3. Die Familie ist die erste göttliche Institution, aus der sämtliche andere Institutionen (Arbeit, Kirche, Staat) hervorgehen (siehe 1. Mose 2,24). Selbstbeherrschung ist die erste Form der Herrschaft und die Familie das erste Trainingsfeld hierfür (vgl. 1. Mose 4).
  4. Denken und Handeln sind eine von Gott geschaffene, untrennbare Einheit. Die Erneuerung des Denkens (Römer 12,2) geht aus dem Auftrag hervor, Gott mit ganzem Verstand zu lieben. Gleichzeitig ist die Trennung von Glaube (statisch, innerlich) und restlichem Leben (dynamisch, öffentlich) ein Widerspruch in sich selbst.
  5. Gott ist, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis steht, zuerst der allmächtige Schöpfer. Das heißt, auch die Erlösten leben in der Welt ihres Vaters. Es gibt keinen Bereich, der nicht seiner Herrschaft unterstellt wäre. Daraus folgt: Es gibt auch keinen Bereich, der von der Wiederherstellung der Schädigung durch die Sünde ausgeschlossen wäre.
  6. Das Evangelium ist keine Schwellenbotschaft im Sinne eines Eintrittstickets oder "ABC", sondern wird im Neuen Testament als ein Weg beschrieben. Es ist also "A-Z" des Glaubens (vgl. Galater 2,14; Kolosser 1,6).
  7. Gott ist Urbild des Vaters (Epheser 3,15). Die didaktischen Fragestellungen sind zentrales Mittel seiner Erziehung. „Wo bist du? Wer hat dir das gesagt? Warum hast du das getan? Warum bist du wütend?“ sind tiefgehende Fragen, die er den ersten Menschen gestellt hat (1. Mose 3+4). Ich stelle mir diese Fragen zuerst selbst und dann auch den Kindern.
  8. Ich gehe von folgender Metastruktur des christlichen Glaubens aus: Elend, Erlösung, Dankbarkeit. Daraus leite ich die drei Grundschritte für die Intervention ab: Warum ist es nicht so, wie es sein sollte? Sünde als Entfremdung von Gott, sich selbst, anderen Menschen und der übrigen Natur. Woher können wir Hilfe bekommen? Nur von Christus her. Wie können wir im neuen Leben Schritte tun? Heiligung als Aufbau von Geist-gewirkten guten Gewohnheiten.
  9. Im ersten Schritt (Elend erkennen) stellen wir Verstand, Wille und Gefühle in Gottes Licht und bitten um das Wirken seines Geistes. Bevor wir dies beim Kind tun, sind wir selbst gefragt, weil wir auch Sünder sind. Dabei vertrauen wir auf Gottes souveränes Handeln und knüpfen an der Situation (an dem, was sich gerade zeigt) an.
  10. Auch wenn die Umgebung und die anderen Menschen von der Sünde ebenfalls betroffen sind, betrachte ich das Herz als Schnittstelle für unser Denken, Reden und Handeln (Markus 7,20-23; Lukas 6,45). Was von außen an einen Menschen herangetragen wird (Umstände), ist nicht ursächlich für die Sünde. Es geht um unser Herz. Wir neigen dazu, die Umstände dafür zu beschuldigen.
  11. Unser Herz ist eine Götzenfabrik, das heißt, wir tendieren permanent dazu (Eltern und Kinder), etwas anderes als Gott an die erste Stelle zu setzen, zum Beispiel Bequemlichkeit oder Egoismus.
  12. Das Bekenntnis ist die Schlüsselstelle nach dem Erkennen von Sünde. Gott fordert uns auf, unsere Sünde bereuen. Wir bitten darum, sie darüber hinaus zu hassen, sie zu verabscheuen und von ihr zu lassen. Das Bekenntnis ist die Bankrotterklärung vor Gott und die Inanspruchnahme seiner Gerechtigkeit. Wir geben damit auch unsere Selbstrechtfertigung auf.
  13. Gute Früchte sind Anzeichen für das neue Leben und das Wachsen in der Heiligung an. So lange die Kinder unter der Obhut der Eltern stehen – ich sehe die Familie als Bundesgemeinschaft vor Gott –, werden sie als diesem Bund zugehörig betrachtet. Mit dem Erwachsenwerden bestätigen sie das Bekenntnis der Eltern oder wenden sich bewusst davon ab.

PhD Hanniel Strebel ist verheiratet und fünffacher Vater. Er arbeitet in der betrieblichen Erwachsenenbildung. 2013 promovierte er im Zuge seines Theologiestudiums und verfasste seine Doktorarbeit über die «Theologie des Lernens». Zudem ist er leidenschaftlicher Blogger[2].

 

 

[1] Hierbei geht um den Folgeprozess mangelhafter Primärbindung. Es handelt sich hier um eine alternative Bindungstheorie. Vgl. https://hanniel.ch/2010/03/26/bindungen-zu-gleichaltrigen-wegen-bindungslucke-der-eltern/

[2] Weiter Anregungen können Sie unter http://www.hanniel.ch erhalten.

 

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