Antisemitismus geht uns alle an
von Ute Henne
Von Thorsten Trautwein

Im Jahr 2024 begegnet uns Antisemitismus fast überall. Es ist erschütternd: Was zunächst von einzelnen Gruppen ausging und lange als rechtes oder islamistisches Problem galt, hat mittlerweile den Kulturbetrieb, Fridays for Future, Universitäten, Schulen und andere Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfasst. Fast möchte man sagen, Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht überall gewaltbereit und offensichtlich, doch mehr und mehr sind antisemitische Stereotype und Ressentiments erkennbar. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie den Menschen, die sie äußern, bewusst sind oder nicht. Die Konsequenz ist dramatisch. Jüdinnen und Juden meiden bestimmte Orte – selbst Kindergärten, Schulen und Universitäten. Sie legen jüdische Symbole ab, nehmen nicht mehr am jüdischen Religionsunterricht teil, verschweigen ihre jüdische Identität und wollen keine Post mehr von der jüdischen Gemeinde, auf der das Logo und der Absender zu erkennen sind. Manche wandern nach Israel aus, weil sie das Leben dort als sicherer empfinden als in Europa oder in den USA. Das Ernüchternde dabei ist, dass nur wenige Nichtjuden überhaupt Jüdinnen oder Juden persönlich kennen. Das liegt daran, dass nur circa 0,24 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung 2022 dem jüdischen Glauben angehörten. Man geht 2022 von ca. 200.000 Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik Deutschland aus, von denen 90.885 in jüdischen Gemeinden und Landesverbänden registriert sind. Hinzu kommen ungefähr 17.000 bis 30.000 Israelis, die in Deutschland leben. [1]
Was ist Antisemitismus?
Die Arbeitsdefinition der Bundesregierung lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigen-tum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. unterscheidet fünf Erscheinungsformen von Antisemitismus, die auch in Mischformen auftreten: [2]
- „Im antisemitischen Othering wird u. a. die Bezeichnung ‚Jude‘ verwendet, um jüdische (aber auch nichtjüdische) Personen und Institutionen als fremd bzw. nicht dazugehörig zu markieren.
- Antijudaistischer Antisemitismus umfasst die Feindschaft gegenüber dem Judentum als Religion sowie religiöse antisemitische Stereotype, wie etwa die Behauptung, Jüdinnen und Juden seien verantwortlich für den Tod Jesu Christi.
- Moderner Antisemitismus bezeichnet antisemitische Stereotype, die mit der Herausbildung der modernen Industriegesellschaften entstanden sind, wie etwa Verschwörungsmythen, die Jüdinnen und Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zuschreiben.
- Post-Schoah-Antisemitismus bezieht sich in unterschiedlicher Art auf den Nationalsozialismus und die Schoah, wie beispielsweise durch eine antisemitische Ablehnung der Erinnerung an NS-Verbrechen.
- Israelbezogener Antisemitismus beschreibt antisemitische Aussagen oder Stereotype, die sich gegen den jüdischen Staat Israel richten, etwa indem sie diesem die Legitimität absprechen oder ihn dämonisieren.“ [3]
Israelbezogener Antisemitismus
Da der israelbezogene Antisemitismus derzeit eine besondere Rolle spielt, wollen wir ihn genauer betrachten. Was macht also vermeintliche Kritik an israelischer Politik und militärischem Vorgehen zu israelbezogenem Antisemitismus? Die Frage ist wichtig, da das Kritisieren von politischem und militärischem Handeln natürlich erlaubt ist und in Israel selbst aktiv geführt wird. Schließlich ist der Staat Israel – im Unterschied zu den meisten anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens – eine vitale Demokratie. Eine berechtigte Kritik, der sich die israelische Regierung stellen muss, bezieht sich zum Beispiel auf den „Plan“ – wenn überhaupt vorhanden – zur Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung nach dem israelischen Einmarsch im Gazastreifen. Dieser Plan erfolgt unzureichend und führt zu großer Not. Auch wenn genau analysiert werden muss, für welche Anteile dieser Not die Hamas selbst verantwortlich ist.
Zur Unterscheidung von berechtigter Kritik an der Regierung bzw. Politik Israels und israelbezogenem Antisemitismus hat der Politiker Natan Scharanski 2003 einen „Test“ vorgestellt. Da die drei entscheidenden Stichwörter mit „D“ beginnen, wird er auch als „3-D-Test“ bezeichnet. [4]
- Dämonisierung: In Europa gibt es eine lange Tradition der Dämonisierung von Juden. So wurden sie als Gottesmörder angeklagt oder als geldgierige und hinterhältige Wesen dargestellt. Dieses Muster findet sich, wenn palästinensische Flüchtlingslager mit Konzentrationslagern oder der Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto verglichen wird oder Israels Vorgehen gegen Palästinenser als Holocaust bezeichnet wird. Es bedient zudem das Motiv der Täter-Opfer-Umkehr, indem die Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu Tätern stilisiert werden. Der Vergleich von Israel mit dem Nationalsozialismus entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Er verfolgt vielmehr das Interesse, Israel als Verkörperung des Bösen darzustellen. In die gleiche Richtung gehen Aussagen wie „Israel ist ein Terrorregime“ oder „Israel ist Satan“ sowie die Darstellung israelischer Soldaten als Kindermörder. Ein Motiv, das an mittelalterliche Ritualmordlegenden von Juden an christlichen Kindern anknüpft. [5]
- Doppelstandards bzw. eine Doppelmoral liegt vor, wenn Israel anders als andere Staaten behandelt und kritisiert wird. Das erinnert an die frühere gesetzliche Diskriminierung von Juden durch die Mehrheitsgesellschaft, in der sie lebten. So verabschiedete die Generalversammlung der UNO zwischen 2015 und 2022 140 Resolutionen, die sich kritisch über Israel äußerten, wohingegen alle anderen Länder zusammen in lediglich 68 Resolutionen genannt wurden. Die Doppelmoral zeigt sich auch darin, dass die muslimische und nichtmuslimische Welt kaum Anteil an getöteten Muslimen bzw. Arabern zu nehmen scheint, wenn die Täter selbst Muslime sind. Ganz anders dagegen ist es, wenn Israelis oder das israelische Militär beteiligt sind. Ein weiteres Beispiel ist, wenn der Kontext eines israelischen Angriffs auf palästinensische Ziele unterschlagen wird (z. B. vorausgegangener Raketenbeschuss oder Anschläge von Palästinensern), wodurch der Eindruck erweckt wird, dass Israel der einseitige Aggressor ist. Der Terror der Hamas gegen die eigene Bevölkerung, gegen Homosexuelle und Andersdenkende, die Ermordung von (vermeintlichen) Kollaborateuren, Terroranschläge auf israelische Zivilisten, Raketenbeschuss aus dem Südlibanon durch die Hisbollah und anderes mehr findet kaum Beachtung.
- Delegitimierung: Immer wieder wird dem Staat Israel das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht abgesprochen, obwohl die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1947 die Gründung eines jüdischen Staates beschlossen und 1967 erneut bestätigt hat. Damit hat Israel – wie jeder Staat – das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in sicheren Grenzen. Mit Kolonialismus hat weder die Staatsgründung noch die zionistische Bewegung etwas zu tun. Dieser Vorwurf verkennt außerdem die jahrtausendelange Verbindung der Jüdinnen und Juden mit dem Land Israel und ihre Siedlungskontinuität einerseits sowie die Herrschaftsverhältnisse der Region des Nahen Ostens im Lauf der vergangenen 2000 Jahre andererseits. So ist der Slogan „From the River (Jordan) to the Sea (Mittelmeer), Palestine will be free” nicht der Ausdruck einer berechtigten palästinensischen Selbstbestimmung und Freiheit, sondern spiegelt antisemitische Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien wider. Hinter der Delegitimierung Israels verbirgt sich die antisemitische Entwertung des Judentums als Religion und Volk.
Antisemitismus – eine gefährliche Sackgasse
Warum verfangen antisemitische Behauptungen? Im Hintergrund stehen tradierte Muster, die zum Teil seit 2000 Jahren kollektiv zur Verfügung stehen. Antisemitismus entlastet den Träger zuerst von seinen eigenen Problemen und verlagert die Verantwortung nach außen. So werden die Ursachen von strukturellen oder anderen Problemen auf Juden abgewälzt (Sündenbock). Dabei werden die oftmals komplexen Zusammenhänge vereinfacht und personifiziert. Indem man sich von Juden unterscheidet, stabilisiert man die eigene Identität und wertet die eigene Gruppe auf. Gehört man zu einer Gruppe, in der antisemitische Überzeugungen vorherrschen, erlangt man durch Antisemitismus Anerkennung. Antisemitismus richtet sich jedoch nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern immer auch gegen unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und damit gegen uns alle. Mit Meinungsfreiheit haben antisemitische Äußerungen nichts zu tun. Die Geschichte zeigt, wer mit Antisemitismus anfängt, hört nicht bei Juden auf. Antisemitische Überzeugungen bedrohen aber auch die Träger von Antisemitismus selbst, da sie die Wirklichkeit verzerrt wahrnehmen, bestehende Probleme unangemessen analysieren und diese gerade nicht zielführend bewältigen. Darum müssen wir Antisemitismus sehr ernst nehmen.
Antisemitismus in der Schule
Bei Kindern und Jugendlichen begegnet uns Antisemitismus weniger als ausgeprägte Ideologie, sondern vielmehr in Gestalt von ideologischen Versatzstücken, als Ressentiment (z. B. „Ich hasse Juden“) oder Stereotyp (z. B. Kindermörder, Juden steuern das Geschehen im Hintergrund). In der Regel haben sie diese von „Vorbildern“ aus Social Media, der Familie, dem Freundeskreis oder der Jugendkultur übernommen. Die Gründe reichen von Gedankenlosigkeit und Nachreden bis zur Provokation oder dem Testen von Grenzen. Im Kontext der Selbstfindung und der Suche nach Anerkennung wirken Vorbilder, die sich antisemitisch äußern, als stark, männlich und mutig. Aktuell missbraucht die Propaganda der Hamas und anderer bewusst z. B. das Mitgefühl mit leidenden Kindern und lenkt die Wut gegen Juden bzw. Israel.
Wenn uns in der Schule Antisemitismus begegnet, ist es wichtig, die Äußerung bzw. Handlung zu klären: Was ist vorgefallen? Wer ist beteiligt? In Gesprächen mit den Betroffenen und mit den Eltern gilt es, den weiteren Kontext zu erfassen. War es Gedankenlosigkeit, eine Provokation oder steht dahinter die Übernahme von Gedankengut und Handlungsweisen der Eltern, der Peergroup oder einer Vereinigung? Oder ist der Hintergrund der Tat eine Radikalisierung oder das Abdriften in Verschwörungswelten? Daraus ergibt sich, welche Konsequenzen angemessen sind und zur Besserung des „Täters“ beitragen. Es kann hilfreich sein, Fachpersonen hinzuziehen (Schulamt, Polizei, Beratungsstelle, Antisemitismusbeauftragten). Allgemein gesagt erfordert eine pädagogische Herausforderung eine pädagogische Maßnahme; die Störung des Schulfriedens (§ 90 SchG) erfordert Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen; liegt ein Straftatbestand vor (z. B. §§ 86, 86 a, 130 StGB), ist er anzuzeigen. Grundlegend ist, dass Betroffene bzw. Angegriffene geschützt werden! Wird weggesehen oder der Vorfall bagatellisiert, schädigt das den Ruf einer Schule mehr als der professionelle Umgang mit dem Vorfall. Eine klare Haltung und konstruktive Bewältigung stärken das Vertrauen in die Schule, in unsere Demokratie, in demokratische Prozesse und Institutionen. Als Lehrkräfte – als Beamte – sind wir nicht nur Vorbilder, sondern repräsentieren auch den Rechtsstaat. Mit Schweigen oder Wegsehen tolerieren wir Antisemitismus. Vielfach wird das als Zustimmung gewertet, was die Täter bestätigt und bestärkt.
Die Herausforderung besteht darin, dass pädagogisch-didaktische Maßnahmen bei Antisemitismustätern bzw. bei antisemitischen Weltbildern, die in engen Gruppen oder sogar in der Familie tradiert werden, an ihre Grenzen kommen. Gründe sind, dass Antisemitismus mit Autoritarismus korreliert, er im Kontext starker sozial-emotionaler Bindungen auftritt oder mit Ressentiments, unbewussten Schuldgefühlen, Verdrängungsmechanismen bis hin zu intergenerationellen Verstrickungen verbunden sein kann. Alle diese Faktoren können mit den üblichen schulischen Bildungsprozessen kaum beeinflusst werden. Gerade darum müssen klare Grenzen aufgezeigt und sogar Rechtsmittel eingesetzt werden. Unser Umgang mit Antisemitismus sendet nicht nur eine Botschaft an die Täterinnen und Täter, sondern auch an die Unentschlossenen, Zuschauenden, Suchenden und an die Mitläufer. Sie gilt es zu stärken und die Opfer zu schützen! [6]
Thorsten Trautwein, Schuldekan der evangelischen Kirchenbezirke Calw-Nagold und Neuenbürg, Projektpartner bei www.papierblatt.de, einer Plattform für Zeitzeugenberichte jüdischer Holocaust-Überlebender mit Unterrichtsmaterial.
[1] Zu den Zahlen siehe https://de.statista.com/themen/7026/judentum/#topicOverview; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37092/umfrage/anzahl-der-juden-in-ausgewaehlten-laendern; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1232/umfrage/anzahl-der-juden-in-deutschland-seit-dem-jahr-2003 – jeweils aufgerufen am 14. März 2024.
[2] Bundesregierung (Hrsg.): Regierungspressekonferenz vom 20. September 2017, www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/09/2017-09-20-regpk.html – aufgerufen am 28. August 2018, zitiert in: Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (Hrsg.): Problembeschreibung. Antisemitismus in Baden-Württemberg, Berlin 2021, S. 110. Der Link ist mittlerweile nicht mehr gültig.
[3] Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (Hrsg.): Problembeschreibung. Antisemitismus in Baden-Württemberg, Berlin 2021, S. 12.
[4] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/3-D-Test_für_Antisemitismus – aufgerufen am 1. März 2024.
[5] Zum Vorwurf, dass Israel das humanitäre Völkerrecht verletze, siehe Heintschel von Heinegg, Wolff: Nahostkrieg – Israel, Gaza und das humanitäre Völkerrecht, Vortrag vom 23. Januar 2024, gesendet am 22. Februar 2024, in: Deutschlandfunk Nova, www.deutschlandfunknova.de/beitrag/nahostkrieg-israel-gaza-und-das-humanitaere-voelkerrecht – aufgerufen am 10. Mai 2024.
[6] Siehe auch Trautwein, Thorsten (2020): Antisemitismus und Schule – ein vielschichtiges Thema, in: www.papierblatt.de/unterricht/antisemitismus-und-schule.html – aufgerufen am 10. Mai 2024. Dort weitere Literatur.
AKkorr./12.6.2024