Kognitiv begabte Kinder anleiten (Teil 1)

von Henrik Mohn

Von Hanniel Strebel

In unserer neuen dreiteiligen Serie setzt sich Hanniel Strebel intensiv mit seiner eigenen Lebensgeschichte, den Erfahrungen der Vaterschaft und der Bildung seiner fünf Söhne auseinander. Er greift auf umfangreiche Literatur über die theologische Anthropologie (Lehre über den Menschen) sowie ihrer Anwendung im beruflichen Kontext der Beratung zurück und wertet zudem die Beobachtung vieler Kinder sowie Einblicke in Lebensverläufe von Einzelnen und Familien im Bereich der kirchlichen Seelsorge anonymisiert aus.

Im ersten Teil geht es um Vorüberlegungen bzgl. des Menschseins sowie darum, was unsere Kinder beeinflusst. Im zweiten und dritten Teil wird es um die Ausarbeitung eines Modells für die Anleitung von begabten Kindern gehen.

Stützpfeiler der Theologie für die Lehre über den Menschen

Was macht das Menschsein aus? Als Christen bekennen wir, dass wir die Antwort darauf von der Bibel prägen lassen. Diese ist gemäss ihrem eigenen Zeugnis Selbstoffenbarung des Schöpfers, der den Menschen geschaffen hat.

Begabung: Der personale Gott schuf den Menschen in seinem Bild (1. Mose 1,26-28; vgl. 5,1 und 9,6). Hier will ich zwei Aspekte hervorheben: Erstens übertrug Gott dem Menschen die Herrschaft über die übrige Schöpfung. Dies enthält den Gedanken der stellvertretenden Verwaltung in seinem Interesse. Zweitens beauftragte er den Menschen, die Erde zu entwickeln (vgl. 1. Mose 2,15). Das heißt, er schuf den Kosmos in einem Zustand der Unfertigkeit. Jeder Mensch ist beauftragt, mit den ihm verliehenen Gaben einen Teil zu dieser Entwicklung beizutragen.

Ungleichheit: Der personale Gott schuf die Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Begabungen (vgl. z. B. 2. Mose 31,6; 35,34; 36,1-2). Darin bildet sich das ihm eigene Prinzip der Einheit und der Vielfalt ab. Die Menschen sind mit vielen gleichartigen Eigenschaften ausgestattet (körperlich und geistig), gleichzeitig jedoch in einer breiten Variation. Jedem Menschen ist ein einzigartiges Erbgut zugewiesen. Diese Ungleichheit ist von Natur aus gegeben und enthält in sich keine Aussage über einen unterschiedlichen Wert des Menschen. Jeder Mensch kann seinen Teil zur Entwicklung beitragen und damit seinen Schöpfer ehren.

Begrenzung: Gott ist unendlich erhaben über den Menschen. Er steht außerhalb und über der Zeit. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Er besteht aus sich selbst heraus und ist von niemandem abhängig. Er weiß um alles, selbst um das, was sein könnte. Wir Menschen sind hingegen endlich geschaffen. Wir verstehen – auch im ursprünglichen Zustand – nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit. Dies betrifft die Zeit, unsere Beschaffenheit und die Beschaffenheit des Universums. Am meisten trifft dies jedoch auf Gott selbst zu. Wir erkennen so viel von ihm, wie er uns offenbart hat und wie er bei uns Verständnis schafft.

Sünde: Der Hochmut des Menschen – verbunden mit dem Anspruch, Gott gleich zu sein – führte zu seinem Fall. Er verlor dadurch jedoch nicht die strukturellen Eigenschaften des Menschseins wie etwa Verstand, Wille und Gefühle. In geistlicher Hinsicht wurde er aber Gott, sich selbst, seinen Mitmenschen und der übrigen Schöpfung entfremdet. Zur ursprünglichen Ungleichheit und Begrenzung des Menschen kommt nun die vielfache Verzerrung der Sünde hinzu. Die Schöpfung ist nicht mehr in ihrem Originalzustand. Die eigenen Gedanken, Worte und Taten jedes Menschen verirren sich. Doch Gott begrenzt diese Entartung.

Die Herausforderung in der täglichen Interaktion mit Lernenden ist, die oben genannten Aspekte zu berücksichtigen! Denn nach meiner Ansicht verläuft ein tiefer Graben zwischen Lehre und Leben, zwischen privater Welt (zu welcher der Glaube gehört) und öffentlichem Leben (zu welchem Erziehung und Bildung zählen).

Frage zum Nachdenken: Welcher Aspekt war mir bisher in meinem Handeln (viel) zu wenig vor Augen?

Ständige Beeinflusser des Kindes

Jedes Kind im obligatorischen Schulalter wird von vier verschiedenen Seiten beeinflusst. Der Unterschied liegt im Wirkungsgrad auf Gedanken, Worte und Handlungen des Kindes. Hier schränke ich das Blickfeld auf eine Dimension ein – auf die Wirkung der Mitmenschen (vermittelt und direkt) – und klammere die Wirkung des Schöpfers und seines Gegenspielers (dem Teufel) aus[i].

Zuerst beeinflusst jedes Kind sich selbst. Es ist ständig sein eigener Gesprächspartner. Es denkt, bewertet und fühlt pausenlos seine Handlungen. Es ist ständig mit sich zusammen. Die Millionen von Gedanken und Bewertungen verdichten sich zu einem inneren Koordinatensystem, das sich im Hirn abbildet.

Zeitlich intensiv wirken bewegte Bilder auf das Kind ein. Die Auswirkung von täglich mehreren Stunden Aufenthalt in der Online-Welt ist gewaltig. Da werden Vorlieben, Einstellungen über Gut und Böse und Rollenbilder gezüchtet und geprägt.

Jedes Kind wird zudem von Autoritäten beeinflusst. Unter Autorität verstehe ich einen Vorsprung an Lebenszeit und damit verbundener kognitiver und emotionaler Erfahrung. Dazu kommt eine institutionelle Rolle des Vorgesetzten, die von Gott so vorgesehen ist. Hier sind in erster Linie die Eltern sowie weitere wichtige Betreuungspersonen (Lehrer, Großeltern) zu nennen.

Schließlich hält sich das Kind ständig in gleichgerichteten Beziehungen auf. Das sind Geschwister und das Umfeld von Gleichaltrigen. Die Anzahl der Interaktionen übersteigt mit zunehmendem Alter diejenigen der Autoritäten.

Wirkungsweisen der Grundgegebenheiten und Beeinflusser

Jeder der vier nachfolgenden Grundgegebenheiten beeinflusst die Entwicklung des Kindes.

Begabung und Reife des Kindes stellen Möglichkeiten und Grenzen dar. Das heißt, das Kind kann hinter den Möglichkeiten zurückbleiben oder im Gegenteil zu viel wollen, d. h. über den Entwicklungsstand hinaus.

Die Ungleichheit führt dazu, dass das Kind im Vergleich zu anderen Kindern in einigen Gebieten besser und/oder schneller vorankommt. Zudem ist die Frage, welche Gebiete gemessen werden bzw. für das Weiterkommen des Kindes relevant sind (z. B. Zensuren in bestimmten Fächern).

Die Begrenzung des Menschen hat zur Folge, dass er wiederholt an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Jeder Mensch braucht Schlaf. Er kann nicht unbegrenzt leisten und aktiv sein. Zudem wird auch der klügste Mensch auf viele Fragen stoßen, von denen er bestenfalls einen Schimmer hat, dass sie existieren. Er wird jedoch keine Antwort darauf wissen.

Die Sünde des Menschen bewirkt zudem, dass das Kind aus sich selbst heraus und durch sein Umfeld – die Mitmenschen und die übrige Natur – auf vielfältige weitere Begrenzungen stoßen wird. Auf der geistigen und körperlichen Ebene verursacht es selbst Störungen und wird durch andere gestört.

Diese Faktoren können in der Realität nicht immer säuberlich auseinandergehalten werden. Die Unterscheidung ist trotzdem wichtig.

Auch die Beeinflusser wirken ständig auf das Kind ein.

Die Art und Weise mit sich selbst umzugehen – mit dem eigenen Verstehen, dem Willen und den Gefühlen –, beeinflusst die Entwicklung des Kindes.

Die Vorgehensweisen, Bewertungen und Reaktionen von Identifikationsfiguren aus der Online-Welt prägen sich ein.

Die Autoritäten wirken ebenfalls ununterbrochen  in unterschiedlichem Maß auf das Kind ein.

Die gleichgerichteten Beziehungen sind als Außenwirkungskräfte zu berücksichtigen.

Frage zum Nachdenken: Ein Kind ist in ständigem Austausch über sich selbst in seinem Innern. Wie komme ich an Schlüsselmomente des inneren Dialogs heran?

PhD Hanniel Strebel ist verheiratet und fünffacher Vater. Er arbeitet in der betrieblichen Erwachsenenbildung. 2013 promovierte er im Zuge seines Theologiestudiums und verfasste seine Doktorarbeit über die «Theologie des Lernens». Zudem ist er leidenschaftlicher Blogger.