Ev. Schulen und ihr Beitrag zur öffentlichen Bildung - Teil 1
von Henrik Mohn
Von Eckard Geier
Für die Festschrift „GEMEINSAM LEBEN, GLAUBEN, BILDEN“, die zur Verabschiedung von Oberkirchenrat Werner Baur aus dem aktiven Dienst am 3. Mai 2018 erschienen ist und von Carmen Rivuzumwami herausgegeben wurde, hatte ich einen Artikel zum Thema „Evangelische Schulen – zeitgemäß unzeitgemäß in einer pluralen Gesellschaft“ verfasst. Darin habe ich den Versuch unternommen, aus vielen hundert Seiten Textmaterial so etwas wie die Essenz einer fünfhundertjährigen Geschichte des evangelischen Schulwesens zu extrahieren. Angesichts der Kürze war eine Betrachtung der Bildungsbemühungen und -erfolge anderer Konfessionen und nicht konfessioneller freier Schulen nicht möglich. Da man aber nirgendwo sonst in dieser Kürze einen Überblick über das evangelische Schulwesen bekommen kann und sich die Leser von Glaube+Erziehung vielleicht auch für den Beitrag evangelischer Schulen zum Baden-Württembergischen Bildungswesen interessieren, drucken wir den Artikel in zwei Teilen ab.
1. Evangelische Schule – zeitgemäße Bildung für alle
Von Meister Eckehart (1260 – 1328) in den deutschen Sprachraum eingeführt hat der Begriff „Bildung“ ursprünglich eine biblisch-christliche Bedeutung: Bildung kommt von „Bild“. Bildung gibt dem Menschen auf, das zu werden, was er sein soll: Ebenbild Gottes. Auch wenn es selbstverständlich schon immer Bildung außerhalb christlichen Denkens gab, galt für das ganze Mittelalter hindurch: „Schule, Unterricht und Bildung waren … Sache der Kirche.“[1]
Die Kirche betrieb diese „Sache“ allerdings ziemlich selektiv. Bildung war ein Privileg der Adligen und Geistlichen. Die Kirche „erzog sich ihren geistlichen Nachwuchs in eigenen Einrichtungen.“
Martin Luthers Anliegen, allen eine Grundbildung zu vermitteln, um allen einen selbst-verantworteten Glauben zu ermöglichen, hat sich während des Reformations-Jubiläums herumgesprochen. In seiner Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ (1524) spricht er sich nicht nur für eine religiöse, sondern umfassende Allgemeinbildung für alle Kinder (arme und reiche, Jungen und Mädchen) aus.[2][3]
Bildung soll schon damals dem Fachkräftemangel wehren: „Weil denn eine Stadt Leute haben soll und muss und es überall der größte Missstand, Mangel und Klage ist, dass es an Leuten fehle, so darf man nicht warten, bis sie von selbst aufwachsen.“[4] Luthers Aufruf hat offensichtlich Früchte getragen. Um 1600 hatte fast jedes württembergische Pfarrdorf auch eine eigene Schule.
In Württemberg hatte Herzog Christoph 1556 vierzehn Klöster dazu veranlasst, sich in einer neuen Klosterordnung eine neue Zweckbestimmung zu geben: Sie richteten Schulen ein – vorwiegend mit der Zielsetzung, Pfarrer auszubilden.
Die großen pädagogischen Denker Philipp Melanchthon (1497 – 1560) und Jan Amos Comenius (1592 – 1670) trugen das Ihre zu einer evangelisch geprägten allgemeinen Bildung bei.
Der Gedanke der „Volksbildung“ wurde in den „deutschen Schulen“ umgesetzt – im Gegensatz zu den Lateinschulen. Die Aufsicht über die deutsche Schule im Ort führte der Ortsgeistliche – Volksschule als kirchliche Schule, in den evangelischen Landesteilen evangelische Schule. Die von Johannes Brenz wesentlich mit beeinflusste Württembergische Schulordnung (1559) regelte bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts das gesamte Unterrichtswesen der deutschen Schulen, der Pfarr- und Klosterschulen, der städtischen Lateinschulen und der Landesschulen.
Zeitgemäße Schule im 16. Jahrhundert war ohne Zweifel evangelische Schule auch dort, wo sich die Trägerschaft nicht in kirchlicher Hand befand.
Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts bringt mit der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges den Zusammenbruch der Schulen mit sich.
Der Theologe und Pädagoge Johann Valentin Andreae (1586-1654) formuliert den einzigen geschlossenen Entwurf einer christlichen Schule in Württemberg innerhalb seiner „Christianopolis“, einer Utopie für ein christliches Gemeinwesen. Seine Schule inmitten der „Christenstadt“ ist ein Gegenentwurf zum damaligen Schulwesen, eine längst fällige Bildungskritik mit einer am Kind orientierten Pädagogik. Auf Deutsch soll der Unterricht stattfinden, kindgemäß soll er sein und nur vermitteln, „was dem jeweiligen Alter angemessen und innerhalb des Gesichtskreises desselben liegt.“[5] Alle Kinder der Bürger beiderlei Geschlechts sollten in dieser Schule erzogen werden. Auch wenn sein Schulmodell nie umgesetzt wurde, gab Andreae wichtige Anstöße für die Pädagogik und gilt als Begründer neuzeitlicher Schularchitektur. Noch im letzten Kriegsjahr, 1648, wurde in Württemberg die Einführung der Schulpflicht beschlossen.
Evangelische Schulen im 17. Jahrhundert waren als öffentliche Schule auf der Suche nach einer kindgemäßen und damit zeitgemäßen Pädagogik.
Das 18. Jahrhundert ist in Württemberg geprägt von der Entstehung des Pietismus. Der Pietismus findet seinen Niederschlag in der Schulordnung von 1729. Besonderes Gewicht wird auf die christliche Persönlichkeit des Lehrers gelegt. Der Lehrer sollte „sein Lehren mit dem Leben zieren und daran zeigen, dass die ihm anvertrauten Kinder von ihm selbst das Exempel alles Guten nehmen mögen.“
2. Rettungshäuser
Im 19. Jahrhundert wurden die Schulen gegründet, die heute neben den Seminaren Maulbronn und Blaubeuren zu den ältesten der im Evangelischen Schulwerk[6] zusammengeschlossenen Schulen gehören.
Die Industrialisierung führte zu katastrophalen wirtschaftlichen Situationen. Die Napoleonischen Kriege und die Hungersnot von 1816/17 taten ein Übriges. Dies führte zu Gründungen von Internaten, sogenannten Rettungshäusern, um der Verelendung vieler tausend Kinder Einhalt zu gebieten.
Erstmals werden jetzt eigene Schulen in freier, evangelischer Trägerschaft gegründet, die einen Gegenentwurf zum staatlichen Schulwesen darstellen, auch wenn letzteres noch lange unter Aufsicht der Kirche stehen sollte. Der Staat kümmerte sich nicht oder nicht ausreichend um die Belange seiner Bürger, sondern stellte lediglich ein Minimum an staatlicher Ordnung her.
1806 gründete die Herrnhuter Brüdergemeinde mit Erlaubnis des Württembergischen Königs die Siedlung Königsfeld im Schwarzwald und eine Mädchenschule mit Internat. Im Jahre 1813 folgte die Gründung einer Internatsschule für Jungen. Aus den kleinen Anfängen von damals ist inzwischen ein großes, modernes Schulwerk mit zahlreichen Schulzweigen und Internaten geworden, in dem über tausend Schülerinnen und Schüler lernen und leben. Die Zinzendorfschulen gehören damit zu den ältesten Mitgliedsschulen des Schulwerks.
Christian Heinrich Zeller pflegte Kontakt zu Johann Heinrich Pestalozzi. Er gründete einen Armenschul-Verein und konnte 1820 auf Schloss Beuggen, unweit Basel, ein „Rettungshaus“ für verwahrloste Kinder eröffnen. Heute ist die Christian-Heinrich-Zeller-Schule der Diakonischen Jugendhilfe Heilbronn nach ihm benannt.
Die Beuggener Anstalt wurde vorbildlich für viele weitere Rettungshäuser. Pestalozzi soll, nachdem sein eigenes Projekt gescheitert war, über die Anstalt Zellers gesagt haben: „Das war's, was ich wollte.“ Zellers Bruder, Mitarbeiter Pestalozzis, eröffnete 1836 im ehemaligen Kloster Lichtenstern im Landkreis Heilbronn eine Kindererrettungsanstalt, heute Evangelische Stiftung Lichtenstern.
Ebenfalls 1820 wird die Paulinenpflege in Stuttgart unter dem Patronat der Königin Pauline als "Kinderheim Stuttgart" gegründet. Seit Oktober 1948 hat die Albert-Schweitzer-Schule und die Paulinenpflege ihren Stammsitz auf der Rohrer Höhe. Heute gehört sie zur Stiftung Jugendhilfe aktiv.
In der Folgezeit kommt es zu einer regelrechten „Rettungshausbewegung“. Nur wenige können hier exemplarisch genannt werden.
1823 wird das „Rettungshaus“ in Korntal gegründet. Die heutige Johannes-Kullen-Schule gehört zum Schulwerk. Der bereits vier Jahre früher erfolgten Gründung der Brüdergemeinde Korntal wird im Jubiläumsjahr 2019 in einer Ausstellung und in zahlreichen Veröffentlichungen gedacht.[7]
Mit der Unterstützung König Wilhelms I. und seiner Gattin Königin Pauline konnte Diakon Heim am 6. August 1823 die Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder als weiteres Rettungshaus in Winnenden eröffnen. Zentrales Anliegen der Erziehungsanstalt war die Schulbildung der jungen Menschen. Ergänzender Unterricht in hauswirtschaftlichen, handwerklichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten sollte es den jungen Menschen ermöglichen, künftig ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Blinde und Gehörlose wurden bereits in den Anfangsjahren aufgenommen. Heute beschäftigt die Paulinenpflege knapp 1500 Mitarbeitende und betreut mehr als 3700 Menschen.
1830 gründet Gottlieb Wilhelm Hoffmann, der Vorsteher von Korntal und Wilhelmsdorf, in Wilhelmsdorf das „Rettungshaus für verwahrloste und verwaiste Kinder“ und ruft mit dem Taubstummenlehrer Osswald bald darauf eine Taubstummenanstalt ins Leben.
1837 beginnt Gustav Werner seine diakonische Tätigkeit mit der Gründung einer Kleinkinderschule (Kindergarten) und einer Industrieschule. Wenig später gründet er eine Kinderrettungsanstalt, mit der er 1840 nach Reutlingen umzieht.
Fliedner, Fröbel, Gustav Werner und andere nahmen in dieser Zeit mit ihren „Kinderschulen“ oder „Kleinkinderschulen“ die frühkindliche Bildung in den Blick. Es entstanden die ersten Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen – damit wird ein wesentlicher Bildungszweig der beruflichen Bildung ebenfalls aus evangelisch orientierter Verantwortung heraus entwickelt. 1844 gründete Regine Jolberg ein „Mutterhaus für Kinderpflege“ bei Kehl. 1856 richtete Wilhelmine Canz eine Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen in Großheppach ein, 1862 wurde in Württemberg der „Verein Evangelischer Kindergärtnerinnenseminare“ gegründet.
Ebenfalls als Antwort auf die Notlage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründete Theodor Fliedner 1836 in Kaiserswerth eine „Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen“. Es war die Geburtsstunde der Diakonissenmutterhäuser mit ihren zahlreichen Krankenhäusern und Krankenpflegeschulen. In der Folge entstanden viele evangelische Bildungseinrichtungen für Gesundheitsberufe, die sich bis heute in evangelischer bzw. diakonischer Trägerschaft befinden.
Zum Schluss noch ein Blick auf die Ferdinand-Fingado-Schule in Lahr: Ferdinand Fingado gründete das Lahrer Waisen- und Rettungshaus kurz vor Weihnachten 1848. Seine Motivation ist beispielhaft für alle Rettungshaus-Gründungen. Sie wurzelte in seiner Glaubensüberzeugung: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf“ (Matth. 18,5). Fingado wollte Kinder aus der Verelendung und von der Straße wegholen und sie in die Gemeinschaft aufnehmen. Fingado ging es wie den anderen „Gründungsvätern“ der Rettungshäuser darum, diesen Kindern Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der Einsatz für Menschen, denen der Ausschluss aus der Gesellschaft droht, für Kinder in Armut, Elend und der Gefahr, kriminell zu werden, zeichnet diese Schulen von ihren Gründerjahren bis heute aus. Auch der Bildungsanspruch von Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen aller Art wurde als Auftrag christlicher Einrichtungen gesehen und wird bis heute im Sinne eines evangelisch-theologischen Bildungsverständnisses umgesetzt. Bildung, optimale Förderung auf dem jeweiligen Stand der Wissenschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft waren die Ziele von Anfang an.
Evangelische Schule im 19. Jahrhundert war also in erster Linie keineswegs private Elitebildung, sondern Antwort auf die Nöte der Zeit mit dem Ziel, Bildung für alle anzubieten.
3. Bildung für Mädchen
Weder als „Rettungseinrichtung“ noch als Gegenentwurf zum allgemeinen Schulwesen kam es um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einigen Schulgründungen speziell für Mädchen. Bereits 1772 hatte Herzog Carl Eugen die erste höhere Mädchenschule in Ludwigsburg gegründet. Weitere folgten.[8]
1841 gründeten Charlotte und Friedrich Reihlen ein Töchterinstitut in Stuttgart. Der selbstlose Dienst an Armen und Kranken entsprach für Charlotte Reihlen dem Ideal christlicher Nächstenliebe ebenso wie die qualifizierte Ausbildungsmöglichkeit gerade für junge Frauen. Charlotte stand im Kontakt mit Gottlieb Wilhelm Hoffmann und war in ähnlicher Weise aus ihrem Glauben heraus motiviert wie der Gründer der Wilhelmsdorfer Schulen. Aus dem Töchterinstitut wird 1906 die „Schulstiftung für das Evangelische Töchterinstitut“, heute die Evangelische Schulstiftung des Kirchenkreises Stuttgart mit vier Schulen.
Schloss Gaienhofen, die evangelische Schule am Bodensee, geht auf die Gründung eines Landerziehungsheims für Mädchen 1904 zurück.
1927 gründete Elisabeth von Thadden im Wieblinger Schloss bei Heidelberg das „Evangelische Landerziehungsheim für Mädchen“. Von Thadden stand der Bekennenden Kirche nahe und war Mitglied des sogenannten Solf-Kreises. Ihr Engagement und ihren Einsatz für Juden und andere während des Nazi-Regimes Verfolgte bezahlte sie mit dem Leben. 1944 wurde sie in Plötzensee hingerichtet.
Mit der Rettungshausgeschichte, einer angemessenen „höheren“ Bildung für Mädchen, mit den Angeboten an Internaten für Kinder, die an ihrem Wohnort kein geeignetes Bildungsangebot fanden und weiteren Schulgründungen stieß evangelische Bildung in eine Lücke des Bildungsangebots ihrer Zeit. Mit der Aufnahme modernster pädagogischer Erkenntnisse in ihr Bildungsprogramm (Pestalozzi, Reformpädagogik, Behindertenpädagogik für Körper-, Sinnes- und Geistigbehinderte, aber auch für „Verwahrloste“, der heutigen Sonderpädagogik für emotionale und soziale Entwicklung) waren evangelische Schulen im 19. Jahrhundert absolut zeitgemäß.
Eckard Geier ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er war von 2011 bis 2018 Leiter des Evangelischen Schulwerkes in Baden-Württemberg. Davor leitete er die Freie Evangelische Schule Stuttgart als Schulleiter.
Anmerkungen:
[1] 450 Jahre Kirche und Schule in Württemberg. Stuttgart 1984. S. 17
[2] Martin Luther. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling. Frankfurt 1982. Bd. V, S. 50.
[3] Vgl. Scheffler, W.: Martin Luthers Einfluss auf die Pädagogik – damals und heute in: Glaube+Erziehung (2017), 69. Jahrgang, Heft 4+5, S. 11-16.; Grosse, S.: Was ist christliche Bildung? In: Glaube+Erziehung (2019), 71. Jahrgang, Heft 2, S. 12-14.
[4] Ebd. S. 51
[5] 450 Jahre Kirche und Schule a. a. O. S. 75
[6] Zum Evangelischen Schulwerk siehe Abschnitt „Evangelische Schulen zeitlos zeitgemäß“.
[7] Z. B. in Stuttgarter Zeitung am 19.02.2019, Schwäbische Heimat. Zeitschrift für Regionalgeschichte, württembergische Landeskultur, Naturschutz und Denkmalpflege 2019/1 S. 18 ff.
[8] Sauer, P. (1995): Geschichte der Stadt Stuttgart. Bd 3. Kohlhammer, S. 304f